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Wartezimmer - oder: Warum mein Nervensystem lieber beim Bestatter wäre

Ich sitze seit neun Uhr hier. Das Wartezimmer ist voll. Gegenüber zieht jemand alle zehn Sekunden die Nase hoch. Hinter mir kaut einer auf seinem Kaugummi, als würde er Morsezeichen üben. Neben mir raschelt jemand unaufhörlich mit seiner Jacke, und ganz hinten klappert einer mit seinem Gebiss.

Ich übertreibe nicht: Mein Nervensystem wäre heute lieber beim Bestatter. Dort ist es wenigstens still.


Jedes Geräusch fährt mir durch den Körper. Jeder Huster lässt meine Schultern zucken, jeder Atemzug eines anderen fühlt sich an, als würde er in meinem Nacken stattfinden.

Irgendjemand riecht nach Mottenkugeln, jemand anderes nach kaltem Rauch, und die Frau neben mir hat so viel Parfum aufgelegt, dass ich schwöre, ich könnte es löffeln.

Ich versuche, durch den Mund zu atmen, aber das fühlt sich an, als würde ich den Geruch direkt essen.

Und ich schwöre, ich kann die Bakterien schon hören – im Gleichschritt, marschierend, brüllend: „Angriff!“


Hinter mir blättert jemand in einer Zeitschrift – langsam, aber rhythmisch. Das Blättern hat jetzt einen Beat. Ich höre ihn in meinen Schläfen pochen. Ein Handy vibriert, eine Armbanduhr piepst.

Mein Gehirn ist damit beschäftigt, alle Reize zu sortieren: „Wichtig? Unwichtig? Überlebensnotwendig? Nein? Sicher?“

Und während ich äußerlich still sitze, läuft innerlich ein kompletter Hochleistungsbetrieb.


Für empfindsame Menschen ist das Wartezimmer kein neutraler Raum. Es ist eine Arena.

Eine Ansammlung von Reizen, Geräuschen, Gerüchen, Bewegungen – und dazu die Unsicherheit, wann man endlich dran ist. Das Warten ist ja an sich schon Stress genug. Aber dieses Warten, begleitet von fremden Geräuschen, fremden Atemzügen und dem penetranten Summen der Leuchtstoffröhre, ist eine eigene Disziplin.


Manchmal stelle ich mir vor, mein Nervensystem hätte eine kleine Stimme.

Heute würde es wahrscheinlich flüstern:

„Ich kann nicht mehr. Lass uns bitte kurz in den Keller gehen und weinen. Oder wenigstens an einen Ort ohne Gebissgeräusche.“


Ich lächle tapfer. Versuche, mich auf den Boden unter meinen Füßen zu konzentrieren. Atme ein, atme aus. Es hilft ein bisschen. Ich übe, einfach da zu sein, obwohl mein Körper am liebsten fliehen würde.


Manchmal hilft mir Humor. Manchmal hilft mir ein freundliches Gesicht.

Beides habe ich heute zuhause vergessen.


Ich bin empfindsam. Mein System ist einfach gut kalibriert. Es nimmt wahr, was andere ausblenden. Nur leider ist das Wartezimmer kein Ort, an dem man sich damit wohlfühlt.


Ich träume heimlich von einem stillen Wartezimmer. Mit sanftem Licht. Ohne tickende Uhren, ohne Parfumwolken, ohne klappernde Zähne. Vielleicht mit einer Kuscheldecke, einer Tasse Tee und der Möglichkeit, einfach in Ruhe zu warten, ohne dass man innerlich zerbröselt.


Bis dahin bleibe ich hier sitzen, halte die Luft an, nicke freundlich und hoffe, dass ich gleich dran bin – bevor mein Nervensystem wirklich beschließt, sich beim Bestatter anzumelden.

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